Schlaflos

Ich wache mitten in der Nacht auf, weil es im Zimmer so hell ist. Der Vollmond beleuchtet das weiß bezogene breite Ehebett. Neben mir liegt ein fremder Mann, den ich schon seit zwanzig Jahren kenne. Ich weiß fast alles über ihn, weil er immer so mitteilungsbedürftig ist, aber trotzdem kommt er mir plötzlich so fremd wie ein Außerirdischer vor. Ich sehe mir seine zerzausten grauen Haare und im Schlaf entstellte Gesichtszüge an und denke: „Man, ist er alt geworden“. Damals, als wir heirateten, war der dreizehn Jahre Unterschied kein Thema für mich. Ich war zwanzig und er dreiunddreißig, beide jung, gesund und hübsch. Wir hatten eine turbulente romantische Beziehung bereits hinter uns und gewöhnten uns an den Alltag zu zweit, dann zu dritt, als unser Sohn zur Welt kam, und nach einiger Zeit gab es nichts mehr als diese Gewohnheit. Die Koseworte wie Schatz, Süßer, Kleines, ersetzten unsere Namen und verloren ihren ursprünglichen Wert. Das Zweimal-pro-Woche-Miteinanderschlafen, was übrigens weit über den statistischen Durchschnitt für deutsche Ehepaare liegt, wurde zum Ritual und diente uns beiden als ausreichender Liebesbeweis, sodass wir über unsere Gefühle nicht mehr sprachen und merkten auch nicht, wie sie verschwanden. Nicht alle natürlich, überwiegend die positiven. Für Affären und Seitensprünge ließ uns der Alltag keine Zeit, denn wir haben viel gearbeitet, um uns ein solides Haus, ausgefallene Urlaubsorte und auch andere Annehmlichkeiten gönnen zu können. Und da waren noch die Prinzipien. Ob es auch meine waren, kann ich gar nicht sagen. Aber mein Mann hatte eine ganze Menge davon. Sein Lieblingsspruch war: „Das macht man nicht!“. Warum man’s nicht macht, hätte er wahrscheinlich gar nicht erklären können. Es gibt so Menschen, die nur die Mitte eines jeden Gedanken denken können. Die Ursachen und die Folgen dessen interessieren sie nicht wirklich oder werden willkürlich der aktuellen Situation angepasst. Mein Mann gehört dazu.

Jetzt liegt dieser Mann neben mir im Bett, mit offenem Mund, mit erschlafften Gesichtsmuskeln, alt, unattraktiv, unappetitlich und schnarcht. Das Schnarchen nahm ich ihm immer schon übel. Eine Zeitlang schlief ich im Arbeitszimmer auf dem Sofa, aber der damals noch nicht so ganz Fremde meinte, dass getrennte Betten den Anfang vom Ende einer Ehe ankündigen, und bestand auf meiner Rückkehr in das gemeinsame Schlafzimmer. Die Ehe war gerettet, meine Nachtruhe für immer zerstört. Ich bin permanent müde und kann nicht mal am Wochenende den mir fehlenden Schlaf nachholen. Am Samstag putze ich den ganzen Tag und am Sonntag besuchen wir die Schwiegereltern. Vom Mittagsschläfchen kann ich nur träumen und zwar im Wachzustand.

Der Schlafende produziert gurgelnde Geräusche, sein Bauch konkurriert mit dem Rachen und ich denke, dass allein sein Reizdarmsyndrom ein wichtiger Grund für eine Scheidung wäre, hätte ich mich getraut, das vor dem Gericht auszusagen. Ich stelle mir das bildlich vor: ich vor dem Gericht mit einer Rede gegen das Reizdarmsyndrom, und muss lachen. Tagsüber spiele ich meistens die Verständnisvolle und Mitleidende, doch ehrlich gesagt, kann ich all die Krankheiten meines Mannes nicht mehr ernst nehmen.

Zum Glück habe ich einen Ganztagsjob. Aber die Wochenenden sind eine reine Geduldsprobe, sogar für so eine harte Nuss wie ich es bin. Der Morgen fängt meistens mit seinem lauten bellenden Husten an. Nachdem die Bronchen und die Zähne geputzt sind, zündet mein Schatz die erste Zigarette an und verlangt nach einem Kaffee – eine Todsünde für jeden chronischen Gastritis Patienten. Direkt danach fordert der übersäuerte Magen ein ausgiebiges Frühstück. Ich kenne keinen anderen Menschen in meiner Umgebung, der zu dieser Tageszeit so viel essen kann: die Suppe von gestern, belegte Brote, Frikadellen mit Senf und Nudelsalat als Beilage und zum Schluss noch etwas Süßes. Es dauert nicht lange und ich darf das Ergebnis dieser Fressorgien live miterleben, beziehungsweise mithören. Jedes nächtliche Blubberchen wird zur gegebenen Stunde zu einer Kanonade und kein Isolierstoff der Welt könnte das wortwörtlich kakofonische Konzert im kleinsten Zimmer unseres Hauses dämmen. Anschließend beginnt das Jammern, das Fenchelteezubereiten und –trinken, mit Wärmeflasche auf dem Sofa Rumliegen und über den Krebs Spekulieren. So ein Reizdarm ist auch wirklich keine schöne Sache. Er reagiert, wie schon der Name aussagt, gereizt auf alles was schmeckt und aufregt. Dazu zählen: gegrilltes Fleisch und fette Käsesorten, frische Früchte und Alkohol, Süßigkeiten, Torten und Sahnejoghurts, Nachbarn, Kollegen, der Chef persönlich und natürlich die eigene Familie, die ja immer präsent ist und nicht nur dann, wann man sie sich wünscht. Aber, Gott sei Dank, ist unser Sohn bereits ausgezogen. Seitdem geht es meinem Mann schon viel besser.

Richtung Mittag beruhigt sich das biestige heimtückische Syndrom, verstellt sich als ein harmloses gelegentliches Pupsen und wartet auf den nächsten Schub der ungesunden Nahrung, die mein Mann in großen Mengen einkauft und im Kühlschrank aufbewahrt. Angebote! Er liebt die Doppeltpackungen, erworben für einen halben Preis. Und da gibt es noch die Dreißig Prozent mehr zum selben Preis und die Zehnerpackungen und… und…das muss alles aufgegessen werden. Meine Versuche, seine Ernährung basisch, vegetarisch, trennkostmäßig umzustellen, scheiterten an seiner Fresssucht bereits mehrmals, die Zuhörerfunktion ist leider geblieben. „Wehr dich!“ – hetzt mich mein wachgerütteltes emanzipiertes Selbstbewusstsein gegen seine tägliche Selbstmitleid-Berichtserstattung auf, aber das „Kleine Mädchen“, pflichtbewusst und dominant erzogen, macht immer das, was von ihm erwartet wird: seine Lieblingsgerichte kochen, ihn pflegen, ihm zuhören. „Ich sollte alle psychologischen Bücher aus meinem Schrank entfernen und verbrennen“, – denke ich hellwach im Bett liegend. – „Hätte ich sie nicht gelesen, hätte ich wenigstens nicht gewusst, wie doof ich bin.“ – und fühle mich wie eine aufgeklärte Emanze auf einer Zeitreise in die konservative Vergangenheit, frustriert und gefangen gehalten in ihr. Where the fack is Alice Schwarze und was hat sie uns da vorgegaukelt!?“

Mit den Jahren gab es für meinen Mann immer mehr Gründe sich über das Unwohlbefinden zu beklagen: Zahnschmerzen, verursacht durch die immer wieder verschobenen Besuche zum Zahnarzt, genetisch veranlagter Haarausfall, Hautirritationen, Schuppenflechte, Bierbauch, Hämorriden und kaputte Gelenke sind nur einige davon. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es war, ohne einen Koffer voll mit Medikamenten zu verreisen, nach einem Restaurantbesuch die Nacht ohne sein Gejammer durchzuschlafen, Sex zu haben, ohne dass mich sein Mundgeruch oder sein Gekrächze nicht stört oder ein Gespräch zu führen, das mich wirklich interessiert. Ich kenne alle seine Floskeln und Witze auswendig und, wenn Andere dabei sind, schmunzle ich nur aus Höflichkeit und um den Schein einer intakten Ehe zu bewahren. Unsere sich immer wechselnden Bekannten lachen herzlich und finden uns nett, meinen Mann witzig und wollen uns als Freunde haben. Doch die meisten verursachen bei meinem Mann einen neuen Schub der Darmkrankheit und werden aus den Handy-Kontakten entfernt. Die Ausreden, warum wir uns nicht mehr treffen können, darf natürlich ich mir ausdenken und den „Versagern“ mitteilen. Allein gehe ich nicht aus. „Das macht man nicht“, – so die ungeschriebene Weisheit meines Mannes, und bevor es Streit gibt, verzichte ich lieber auf die neuen Freunde.

Der Mann an meiner rechten Seite schläft unruhig und träumt bestimmt nichts Schönes, was kein Wunder ist mit so vollem Magen. Sein Mund ist halboffen und ich kann seine gelben Raucherzähne sehen. Der letzte Gedanke, bevor ich doch noch einschlafe, ist: „Er braucht eine neue Zahnbrücke. Ist ja eklig wie er mit den Vorderzähnen kaut, sodass die gekaute Masse fast aus dem Mund tropft. Morgen, eigentlich schon heute, muss ich seinen Zahnarzt anrufen und einen Termin machen.

2.

Ich wache mitten in der Nacht auf, weil die Blase voll ist. Ich hätte so spät abends kein Bier trinken dürfen. Jetzt werde ich drei Stunden im Bett wach liegen und nicht einschlafen können. Scheiße, warum muss sie auch immer rechthaben!? Meine Frau liegt links von mir wie tot – sie atmet geräuschlos und bewegt sich nicht. Sie schläft meistens auf dem Bauch, nur den Kopf etwas zur Seite gedreht. Morgens hat sie immer diese tiefe Falte auf der rechten Gesichtsseite. Es ist Vollmond und ich kann ihre Gesichtszüge gut sehen. Man, ist sie alt geworden. Wie die Zeit vergeht! Damals, als wir geheiratet haben, war sie noch ein Kind, fröhlich, romantisch, verspielt, und ich nannte sie „Kleines“, wie in dem Film. Wie hieß er bloß, „Acapulco“ oder so ähnlich? Klein ist sie immer noch, leider nicht mehr verspielt und romantisch, aber ich schlafe immer noch gerne mit ihr, auch wenn es nicht mehr so prickelnd ist wie früher. Aber mein Körper ist so konstruiert und verlangt danach zwei Mal in der Woche, sonst werde ich unruhig. Mein Kollege sagt, er kann mit keiner Frau über fünfunddreißig schlafen – es tut sich nichts bei ihm. Idiot. Hat keine Ahnung von Frauen. Erst ab fünfunddreißig kommen sie auf den Geschmack, wollen unbedingt ihren Orgasmus haben und machen aktiv mit. Das bisschen Hängebauch und Zellulitis stören mich nicht, Hauptsache ich komme auf meine Kosten und die Frau weiß, was und wie ich das mag. Meine Kleine tausche ich gegen keine andere Frau aus. Fremd gehen – ist nicht mein Ding. Sowas macht man nicht, allein wegen Krankheiten und so. Bei uns in der Firma gibt es zwar einige attraktive Dreißig-Vierzigjährige, aber die sind meistens eingebildet und sehen so einen mit Bäuchlein und wenig Haare gar nicht an, die Zicken. Die eine Nette würde ich vielleicht noch checken wollen, aber sie ist verheiratet, und die praktische Ausführung einer Affäre stelle ich mir sehr kompliziert vor. Wie und wo? Bestimmt fallen auch Kosten für das Hotel an. Dazu kommt noch die Problematik mit meinem Reizdarm. Es ist bestimmt anders als zu Hause, wenn du mit einer heimlichen Geliebten auf dem Hotelzimmer bist und plötzlich Dünnschiss kriegst. Die ganze Romantik ist dann im Arsch. Ich verkneife mir das Lachen bei diesem Wortspiel, um die Schlafende nicht zu wecken.

Wie witzig ich manchmal bin! Ich verstehe nicht, warum meine Frau ewig die Augen verdreht, wenn ich ein bisschen rumalbern möchte. Immer diese ernsthaften Gespräche. Dies und jenes hat sie gelesen! Die Geschichte der Weltreligionen studiert sie zurzeit! Wozu? Will sie mit Vierzig noch ihren Beruf wechseln? Oder den Weltfrieden stiften? Und dann dieser Gesundheitswahn, diese Diäten und das Kalorienzählen – das geht mir so auf den Sack. Ein paar Kilos auf den Rippen hätten ihr auch nicht geschadet. Mollige Frauen sehen im Alter viel frischer aus, und gegen einen runden Hintern hätte kein normaler Mann was auszusetzen. Ich bin viel älter als sie, sehe aber noch ganz attraktiv aus, trotz der überflüssigen Pfunde.

Hoffentlich gelingt es mir einzuschlafen, sonst kriege ich wieder Hunger. Ob es noch ein paar Frikadellen im Kühlschrank gibt? Bestimmt hat sie sie wieder im Gefrierfach versteckt. Wenn es nach ihr ginge, würde sie mich nur mit Salatblättern füttern. Ich bin doch keine Ziege! Samstag müssen wir wieder zu Real, um vernünftig einzukaufen. Die Mutter wusste noch wie man den Haushalt führt: es gab immer was Warmes zu essen und Kuchen dazu. Ich ruf sie mal morgen an, vielleicht kann sie Sonntag Rinderrouladen machen. Mmmm, lecker. Wie lange habe ich die nicht mehr gekostet? Meine Kleine kriegt es so nicht hin, butterweich und saftig.

Jetzt meldet sich mein Magen wirklich, mit der Lautstärke eines Huhnes, das ein Ei legt. Ich rutsche leise aus dem Bett und schleiche in die Küche. Zwei Frikadellen und den Nudelsalat, vom Mittagessen übrig geblieben, finde ich in einer Tupperschüssel auf dem Herd. Hat sie vergessen, sie in den Kühlschrank einzuräumen? Gut so. Kaltes Essen ist nicht gut für meinen Magen. Und bevor es schlecht wird, esse ich es lieber auf. Man, bin ich müde. Gut dass morgen Freitag ist. Den halben Tag im Büro halte ich durch und am Wochenende schlafe ich so richtig aus. Die Einladung dieser neugebackenen Freunde aus dem letzten Urlaub sollten wir vielleicht absagen. Der Typ war mir von Anfang an unsympathisch. Gibt mit seinen Bizeps an wie ein Achtzehnjähriger und macht plump und unverschämt meine Frau an! Seine spricht sowieso nur über ihre Kinder und ist auch noch hässlich. Was haben wir mit diesen Leuten gemeinsam? Bevor ich noch einmal einschlafe, überlege ich mir eine vernünftige Ausrede für den Samstagabend, um zu Hause bleiben zu können, aber es fällt mit nichts ein. Nicht schlimm. Mein Reizdarmsyndrom wird mich bestimmt nicht im Stich lassen und allein geht meine Frau nie aus. Macht man auch nicht, wenn der Mann krank ist.

3.

Einige Stunden später klingelt der unbestechliche Wecker. Zwei müde unausgeschlafene Menschen werden langsam wach und nehmen zuerst sich selbst, dann den Anderen wahr, stellen fest, dass sie leben, Ziele, Pflichten und Aufgaben haben und dass sie zusammengehören.

– Guten Morgen, Kleines, – sagt er wie jeden Morgen seit zwanzig Jahren mit belegter Raucherstimme zu ihr. – Hast du gut geschlafen?

– Morgen, Süßer, – antwortet sie im Halbschlaf und macht die Augen noch nicht auf. – Du hast die ganze Nacht geschnarcht, wie hätte ich gut schlafen können!?

– Stimmt gar nicht, was du da sagst, du kleiner Morgenmuffel. Ich bin um drei Uhr wach geworden und du hast geschlafen wie ein Baby. Gehst du zuerst ins Bad oder soll ich?

Die Frau wird sofort wach.

– Ich natürlich. Ich muss heute früher weg. Zum Frühstück kannst du den Salat von gestern und die Frikadellen essen. Steht alles nicht im Kühlschrank, sondern auf dem Herd, damit dein Magen es besser verträgt.

– Danke, Schatz. Und vergiss nicht, dass heute Freitag ist. Was wäre, wenn du heute Abend wieder mal das durchsichtige Schwarze trägst?

Die Frau schnitz gekonnt das Klein-Luderchen-Lächeln ins Gesicht, küsst den Mann auf die Stirn und rutscht aus dem Bett dem neuen Tag entgegen.

Non-Konklusion

Die erste und wahre Prämisse:
Ich muss es nicht unbedingt wissen,
Ob deine verhüllten Gedanken
Im Kreise sich drehen und schwanken,
Sind frei oder voreingenommen
Und ob ich darin vorkomme.

Die ebenfalls wahre Prämisse:
Ich werde dich nicht vermissen,
Aus meinem Leben verschwunden,
Und gehe nicht vor die Hunde
Mit offenen Nervenspitzen.
Ich möchte dich nicht besitzen.

Die dritte erkennbare Wahrheit:
Es wäre die größte Narrheit,
Mein ruhiges schönes Leben
Für dich, ein Phantom, aufzugeben,
Unfähig verdrängte Schmerzen
Aus ihrem Versteck auszumerzen.

Doch neulich, trotz aller Prämissen –
Die weibliche Logik lässt grüßen –
War ich dir so nah`und versucht
(Rückfällig in meiner Sucht
Nach wechselnden Bildern und Szenen),
An deine Schulter zu lehnen,
Das ungestillte Verlangen
Nicht unterdrücken zu müssen,
Das kleine Grübchen zu küssen,
Zwischen den Lippen und Wange –
Den Ort, wo das sanfte Lächeln,
Aus einer Laune geboren,
Mich rettet und lässt mich schwächeln,
Ergeben, verrucht, verloren.

An die Wahrheit

Die Wahrheit ist ein schweres Los.
Sie treibt uns manchmal rigoros
Zum Wahn und in die Enge
Und ist nicht zu verdrängen.

Sie fühlt sich an zum Kotzen echt
Und wie ein Richter selbstgerecht.
Erwarte keine Gnade,
Wenn sie dich fängt und tadelt.

Sie zeigt sich nackt, sie lacht und sticht,
Erklärt den Star zum Bösewicht,
Verwandelt Macht und Ehre
In flüchtige Chimären.

Sie blickt auf Lügende herab
Und manchmal kommt sie mit ins Grab,
Fast wie ein Lebewesen,
Imstande zu verwesen.

Sind wir zu schwach – bringt sie uns um
Den Starken heilt sie wiederum.
Von launischer Mätresse
Lässt er sich nicht erpressen.

Sie öffnet locker das Ventil,
Mitunter ohne Scham und Stil,
Für angestaute Worte,
Auch von der harten Sorte.

Als Dame kommt sie oft zu spät
und achtet auf die Pietät,
Jedoch als Konkubine
Ist käuflich und leichtsinnig.

So wie ein unverschämter Gast
Zuweilen fällt sie uns zur Last
Und stielt wie eine Diebin,
Die Menschen, die wir lieben.

Und trotzdem hätten wir so gern
Aus dunklen Tiefen ihren Kern
Geholt ans Licht, nach oben
Und zahlen mit dem Glauben,

Riskieren Träume, Lebenslust,
Und ohne Rücksicht auf Verlust,
Unheilbar kranke Narren,
Wir lechzen nach der Klarheit.

Und sind, nachdem sie uns passiert,
Noch mehr verzweifelt und verwirrt.
Verdrängen sie blauäugig,
Verdrehen und verleugnen.

Verachten, gehen auf Distanz,
Die kognitive Dissonanz,
Eindeutigkeit der Lage
Nicht fähig zu ertragen.

Die Wahrheit gibt es noch in Fromm,
in Selig und in and’rer Form,
Für die, den es genüge
Von früh bis spät zu lügen.

Und dann noch die, die provoziert,
Narzisstisch ist, emanzipiert
Und künstlerisch-designet…
Und jeder hat die seine.

Und ich? Was bin ich im Bezug
Auf dieses Thema? Neunmalklug?
Gebranntes Kind? Doch langsam
Im Geiste frei und einsam?

Geplagt durch Zweifel, stur, naiv,
Manipuliert, doch relativ
Robust und meistens tauglich
Der Heuchlerin ins Auge
Zu sehen, möge sie auch sein
So kräftig, wie ein alter Wein,
Lasst uns die Gläser heben!
Denn Wahrheit ist das Leben!

16.08.2016

Eine kleine Nachtmusik

Leseprobe:

„….. Ihr war schon klar, dass ein Leben mit so einem Mann für sie nicht in Frage kommen würde. Wo ist sie – und wo er. Aber irgendwie fühlte sie sich seinem Leben zugehörig. Ob sie vielleicht auch das Gen dieser ausgestorbenen Rasse besaß? Wohl kaum. Das positive Ergebnis ihrer ersten Begegnung mit der großen Kunst war, dass zu ihren toten Freunden aus der Musikszene ein lebender dazu kam. Und das war schon ein großer Fortschritt: Die Wahrscheinlichkeit einer Beziehung mit jemanden, der noch lebt, war um einiges höher. Jetzt hatten ihre Träume feste Umrisse. Sie sah sich in der ersten Reihe in jedem seiner Konzerte. Sie stellte sich vor, dass er sie endlich mal unter den Zuhörern bemerkt, nach dem Konzert anspricht und in ein gemütliches Café einlädt. Später fand sie sich bei ihm zu Hause, im dunklen Zimmer auf dem Teppich mit geschlossenen Augen, wobei er an einem weißen Flügel sitzt und für sie Mozarts Klavierkonzert Nr. 21, ihr allerliebstes Musikstück spielt. Sie hört die wehmütigen Klänge des Andantes, sie muss weinen, geht auf den Spielenden zu, lehnt sich an seinen Rücken und… Danach folgt eine der so oft gedachten Varianten der erotischen Szenen, die sie verlegen aus dem Kopf verdrängt, um schneller zu Ihrer Lieblingsepisode zu kommen: sie in Weiß und mit Blumen, er in einem schwarzen Frack und der Pfarrer, der sie traut, heimlich, ohne Zeugen und ohne Gäste. In der Kirche ist es halbdunkel. Leise Orgelmusik füllt den Raum. Sie ist glücklich. Sie nennt ihn laut und italienisch-expressiv – Vittorio… und der Klang ihrer eigenen Stimme bringt sie wieder zurück in das nach altem Bratfett stinkende Zimmer der Großtante, die sie mit Erstaunen ansieht. Auf dem Tisch steht ein Teller mit Bohnensuppe. Sie ist schon kalt geworden und deswegen schwimmt auf der flüssigen Oberfläche, zwischen den angebratenen Zwiebeln, Grieben und Kartoffelwürfeln eine dicke Fettschicht. Melina muss sich übergeben.

Die Großtante war langsam besorgt: Das Mädel verschwindet immer wieder stundelang aus dem Haus, redet kaum noch mit ihr, träumt nur vor sich hin und jetzt das noch. O Gott! Sie hätte die Verantwortung auf sich nicht nehmen sollen. Hoffentlich ist die Göre nicht schwanger!

Aber die Sorgen der alten Frau waren unbegründet. Es gab nur ein Konzert des charismatischen Pianisten in dieser Stadt und durch das viele Träumen ist noch kein einziges Mädel in der Welt schwanger geworden. ….“

Vollständiger Text der Erzählung folge dem link: Eine kleine Nachtmusik