Auf einer exotischen Insel, im schäumenden, oft wütenden, aber auch ziemlich gleichgültigen Ozean lebte ein kleiner grauer Vogel. Er hausierte in der Nähe vom Strand und führte meist ein sorgloses Leben, da es immer was zu essen gab, bis er vor lauter Langeweile nicht anfing zu grübeln. Es ist nämlich so – ein hungriger Magen handelt und ein satter grübelt: „Wer bin ich? Woher komme ich? Warum bin ich allein? Und wozu führt das Ganze?“ – das Übliche eben, aber in der Vogelsprache.
Die erste Frage ließ sich noch relativ leicht beantworten. Der Vogel lauschte den Gesprächen der Zweibeiner am Strand und verstand schon einzelne Wörter, die sich oft wiederholten. Einige von den kleinwüchsigen und besonders wilden Zweibeinern riefen bei seinem Anblick „La Paloma!“, die anderen „Eine Taube!“ und manchmal nannte man ihn „Chromonoschka “. Die dritte Bezeichnung gefiel ihm am besten, und er nannte sich demnächst immer so, wenn er über sich selbst nachdachte oder Selbstgespräche führte. „Na, Chromonoschka, hast du schon wieder Hunger?“ oder: „Toll, jetzt hast du dich überfressen, du Nimmersatt-Chromonoschka. Bald siehst du aus, wie der dicke weiße Fisch im Loro-Park, wirst eingefangen und wie die bunten Vögel hinter der Parkmauer im Käfig gehalten, und zum guten Schluss lässt du dich für Geld von den aufdringlichen Zweibeinigen mit roten schuppigen Schultern und Nasen fotografieren.“
Die Bekanntschaft der ewig plappernden Papageien und des weißen Wales machte der Vogel vor kurzem, als er durch das Schlupfloch in der Mauer in den Loro-Park gelang, und zwar zu Fuß, denn Chromonoschka konnte nicht fliegen. Zumindest hatte sie (denn es war ein Weibchen) es noch nie versucht. So eine merkwürdige Geschichte: eine Taube, die nicht fliegen kann! Man hat es ihr im Kükenalter nicht beigebracht.
Sie konnte sich noch erinnern, wie sie in einem runden klebrigen Nest, das aus trockenem Graß und Kiefernadeln geflochten war und hoch auf einer Palme hing, mit zwei anderen Geschwistern still saß und wartete. Dieses Warten war so mühsam, aber sie wusste, dass sie sich nicht bewegen darf, sonst passiert etwas Schlimmes. Und dann kam die Belohnung: ein großer Vogel, der am Rande des Nestes landete, öffnete seinen Schnabel so weit auf, dass die beiden Geschwister ihre Köpfe in den Hals der Mutter hereinsteckten konnten. Dass es die Mutter war, ist natürlich klar. Wer sonst würde es zulassen, dass zwei hungrige Mäuler ihr das Futter, das sie den ganzen Tag mühsam aufgesammelt hat, fast direkt aus dem Magen wegfressen. Und wie gierig! Chromonoschka war schwächer als ihre Brutgenossen und wurde weggedrängt. Sie hatte auch Hunger, aber der Platz in der Gurgel reichte nur für die zwei Rabauken, die die hochgewürgte übelriechende Masse mit einer bemerkenswerten Schnelligkeit schluckten. Danach war die Mutter auch schon wieder weg und das Zittern und Bangen fing von vorne an.
Damals wusste Chromonoschka noch nicht, dass in der Vogelwelt jeder sich selbst der Nächste ist, aber sie fühlte schon eine unendliche Traurigkeit und Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit unter den Flügeln ihrer Mutter. Diese war leider den ganzen Tag mit der Futtersuche beschäftigt und hatte keine Zeit, die Kleine in den Arm zu nehmen, außer nur das eine Mal, als sie noch hässlich, klebrig und unbeholfen war. Merkwürdiger weise hat es der Mutter überhaupt nichts ausgemacht, dass Chromonoschka jedes Mal nach der Fütterung hungrig blieb und deswegen immer schwächer wurde. Eines Tages, als die Geschwister zu stürmisch schupsten und rauften, fiel sie aus dem Nest, und zwar so unglücklich, dass sie sich dabei das Beinchen brach. Was soll’s, sie blieb am Leben, dank den Zweibeinigen, die ewig etwas Essbares auf den Boden schmießen. In der ersten Woche nach dem Fall ernährte sie sich von im Regen aufgeweichtem Brot und versteckte sich im dichten Gebüsch unter der Palme. Von oben hörte sie das Gurgeln der Mutter und das Streitgeschrei der Geschwister. Mit der Zeit wurde ihre Sehnsucht nach dem Nest immer schwächer, doch die Höhenangst blieb. So eine Palme ist ja ganz schön hoch und der freie Flug für jemanden, der noch nicht fliegen kann, ganz schön heftig. Chromonoschka wollte es nie wieder erleben und blieb lieber auf dem Boden. Als die Nahrung, die übrigens viel besser roch als das Erbrochene der Mutter, zu Ende war, traute sich Chromonoschka ein paar Schritte zu laufen. Es klappte, wenn auch mit Mühe und Schmerz, aber wer sowas Ähnliches schon erlebt hat, weiß, dass durch solche Erfahrungen die weisesten Vögel und Klugscheißer im guten Sinne des Wortes heranwachsen.
Nun wohnte La Paloma, die Taube, namens Chromonoschka in der Nähe vom Strand, wie bereits erwähnt, und humpelte zwischen den Zweibeinern, die ewig mampften und Krümel im Sand hinterließen, herum. Nachts, bei Regen oder bei knallender Sonne versteckte sie sich in einer Höhle des riesigen Vulkansteines. Tagsüber hatte sie immer was zu beobachten – der Strand war fast nie leer. Gefahren gab es keine. Die eingebildeten Möwen, die mit schrillenden Schreien über dem Ozean jagten und beschäftigt taten, waren zwar lästig, aber harmlos; die ängstlichen Kaninchen und Katzen trauten sich nicht zum Strand, weil sie eine panische Angst vor dem Wasser hatten; und die angeleinten Hunde wollten meistens nur spielen, hörten auf ihre Herrchen und liefen ihnen früher oder später hinterher. Außerdem waren alle satt, also friedlich.
Das Leben auf der Insel war von den Zweibeinern gut organisiert, geregelt und eigentlich schön! Wäre da nicht das unaufhörliche Grübeln, die Wehmut, die Sehnsucht nach … Wonach, wusste sie selber nicht so genau und genau deswegen grübelte sie. Wenn man für das nackte Überleben nicht kämpfen muss, hat man Zeit zum Nachdenken. „Was fehlt mir?“ – fragte sich die kleine Chromonoschka und fand darauf keine Antwort, bis sie eines Tages merkte, wie einsam sie war. Nein, es gab genügend Kontakte mit allerhand kriechendem und laufendem Volk, aber das waren nicht ihresgleichen: zu selbstbezogen, zu beschäftigt, zu eingebildet. Ab und zu machte sie die Bekanntschaft der anderen Vögel und fühlte sich zu ihnen hingezogen, suchte ein Gespräch, gurrte freundlich etwas Belangloses, nur um zu wissen, ob sie das auch kann, um zu prüfen, ob sie zu ihnen gehörte und in dieser Zugehörigkeit einen Sinn und den inneren Frieden finden würde. Aber das war alles nicht das Wahre. Man scheuchte sie weg, man gab mit dem Besitz, den man zufällig am Strand ergatterte, an, man demonstrierte Macht und Kraft und flog weg. Und sie konnte nicht fliegen und fühlte sich schwach, wenn sie so humpelnd, unscheinbar und klein über den schwarzen heißen Sand den Strand entlang lief. Der Strand, wie das richtige Leben, war mit großen und kleinen Steinen besät. Sie konnte sie zwar nicht aus dem Weg räumen, zog aber ihren Nutzen aus der Tatsache, dass es sie gab, denn unter jedem Stein gab es immer einen Fund: ein Würmchen, eine Kitsche, einen Kern. Chromonoschka kam auch allein klar, und sie war stolz und brauchte ihre Freundschaft keinem aufzuzwingen, beneidete keinen und musste auch keine Macht ausüben – wie auch? Es hätte sowieso nicht funktioniert. Es gab keinen in ihrem Leben, der ihr die sich windende Würmchen bringen würde, nur weil sie ein Weibchen ist und schwächer als die anderen. Vor allem war man hier auf der Insel auf die Würmchen nicht angewiesen. Also von Macht, Gier und Neid – diesen drei Ursünden – war sie nicht betroffen. Oder vielleicht doch? Wenn sich die Chance ergeben würde? Manchmal war sie zum Beispiel sehr verfressen. Den frechen kleinen Spatzen hat sie öfter gezeigt, dass sie lästig sind, und die Aufdringlichen verjagt. Und war sie nicht doch noch auf die selbstbewusste dicke Taube ein Bisschen neidisch, die die Männlein mit ihrem peinlichen Gesang und aufgepusteten Gefieder anlockte und dann ein paar merkwürdige Tänzchen aufführte? Ehrlich gesagt, sie hätte es auch gerne getan: so auf einem Zweig unter der schattigen Krone einer Feuerakazie mit einem großen starken Vogel kuscheln und turteln. In der Nähe – der Ozean, das Rauschen der Wellen, das Zischen des ablaufenden Sandes, am Horizont – das Schimmern des Sonnenaufgangs oder -untergangs – egal! Hauptsache schön farbig, warm und gemütlich. Die Zweisamkeit! Wer träumt in jungen Jahren nicht davon?! Bei solchen Gedanken wurde sie richtig romantisch und sentimental. Aber nicht lange. Als gute Beobachterin merkte Chromonoschka mit der Zeit, dass die merkwürdigen Tänzchen und die in der Vogelwelt (und nicht nur!) heißbegehrte Zweisamkeit für die Weibchen böse enden. Diese werden immer dicker und spießiger, legten dann Eier, die sie lange ausbrüteten, und das alleine, um später noch wochenlang die hungrigen Mäuler der Geschlupften zu stopfen. Kein Wunder, dass man frustriert, enttäuscht und gefühllos aus der Zweisamkeit aufwachte. Chromonoschka begriff das jetzt und hatte ihrer Mutter verziehen, dass sie ihr keine Liebe schenken konnte. Die Insel war klein und die Spatzenpost schnell, und so wusste sie, dass ihre Mutter, ein flatterndes Wesen, ihrem Instinkt folgend, ein neues Turteltäubchen fand, mit dem sie sich ein neues Nest baute; dass die Geschwister auch schon flügge waren, ganz zu schweigen von dem Vater, den seine eigenen Kinder nach dem Schlüpfen nie wieder sahen oder genauer gesagt rochen, denn zur Zeit des Schlüpfens waren sie ja blind. Wenn man das alles bedachte, hatte Chromonoschka keine Familie mehr.
„So ist der Lauf der Dinge“, – dachte Chromonoschka und geriet in Selbstzweifel. – „Warum kann ich nicht genau so meinen Instinkten folgen? Warum werde ich überall verscheucht? Warum liebt mich keiner? Was ist anders an mir?“ Und als sie das laut ausgesprochen hat, wurde ihr plötzlich ganz klar – sie will genau so sein, wie alle anderen, auf einem Zweig mit einem kurzfristigen Partner schaukeln und gurren, den Hochzeittanz aufführen, ein Nest bauen, die Küken ausbrüten und danach … Was dann passieren würde, wusste Chromonoschka nicht und das erfüllte sie mit Unruhe. „Ach, komme es was es wolle! Es soll nur endlich was passieren!“
Anders sein und dabei noch ein Weibchen – ist nie von Vorteil, zuviel Denken und Grübeln – fast schon eine Katastrophe. Gehorche den Gesetzen der Natur, höre auf deine Instinkte und stelle nichts in Frage, dann bist du besser aufgehoben – könnte ich der kleinen Taube raten, wenn sie mich verstehen würde. Meine ewig grübelnde und trotzdem noch sehr naive Chromonoschka blieb auch ohne meinen Rat nichts anderes übrig. Das Leben ging weiter, wie vom lieben Gott bestimmt: die Schwächeren wurden ausgesondert, die Kranken nicht auserwählt und überlebten nur aus Gnade der Zweibeiner. Es vergingen Monate: kein Turteltäubchen in Sicht, kein Nest, kein Nachwuchs, kein Sinn.
Doch eines Tages passierte im Leben der kleinen Chromonoschka tatsächlich etwas Besonderes. Und das ist jetzt nicht an den Haaren herangezogen, um mit dieser Geschichte voranzukommen. Wenn man lange genug wartet, passiert früher oder später irgendwas – Gutes oder Böses, Neues oder Altes. Das Letztere ist meistens das Selbe, weil wir vergesslich sind und immer wieder die gleichen Fehler machen. Doch wenn man wachsam ist, kann man daraus lernen oder auch eine nette Geschichte darüber schreiben. Und hier ist diese Geschichte.
Chromonoschka watschelte müde über den halbleeren Strand um die bunten Handtücher auf der Suche nach Krümeln (aus der Mülltonne hat sie übrigens nie gegessen!). Es dämmerte, und sie steuerte direkt auf ihre Nachtstätte zu – ein hohler Raum im schwarzen Gestein, weit genug vom Wasser, falls es stärker als sonst fluten sollte. Sie freute sich auf die Nachtruhe und die Möglichkeit, dem plötzlich aufgetauchten Wind zu entkommen, als sie in ihrer Höhle einen fremden Vogel entdeckte. Höflich wie sie war, bat sie den Fremdling ihr Zuhause zu verlassen, worauf er ihr Zeichen machte, still zu sein und ihn nicht zu verraten. „Na gut“, – dachte Chromonoschka, die gewöhnt war nachzugeben. – „Steine gibt es hier genug. Bis zum Sonnenuntergang werde ich eine Bleibe noch finden oder der Typ verschwindet von alleine.“ Aber der Typ verschwand nicht. Ganz im Gegenteil – er machte es sich bequem und meinte ganz locker, dass es in der Höhle genug Platz für sie beide gibt. Chromonoschka humpelte schüchtern rein und ahnte schon – es passiert gerade etwas Eigenartiges in ihrem Leben: man hat sie nicht verscheucht, sondern aufgefordert in der Nähe zu bleiben. Und das war noch nicht alles! Der Eindringling wollte reden!
Der komische Vogel (nennen wir ihn einfach Pedro, weil mir kein anderer spanischer Name im Moment einfällt) war ein wunderschöner weißer Tauberich, der, was Chromonoschka wenige Minuten später erfuhr, aus dem Loro-Park abgehauen ist. Er war ein Artist, kannte viele anderen schrägen Vögel und hatte so einiges zu erzählen, was er auch tat, nicht ohne sich selbst mit Vergnügen zuzuhören. Aber auch in seinem Leben gab es die Monotonie des Alltags und die besagte Langeweile aus Übersättigung und Überfluss. Irgendwie ist es immer das Selbe, egal, zu welcher Art und Schicht man gehört. Irgendwann wird das Heißbegehrte und endlich Erreichte zur Selbstverständlichkeit und reizt einen nicht mehr. Und so flog Pedro durch ein Loch im Netz ins Freie – und das während der Vorstellung! – statt seine Künste vorzuführen: im Kreise zu fliegen, auf der Schulter des Dompteurs zu landen, die Leiter hoch und runter zu laufen und Rad zu fahren. „Ganz bestimmt sucht man mich schon überall, denn ohne mich bricht die Show zusammen“, – wie nebenbei bemerkte der kleine Macho und schlief erschöpft ein.
Nicht aber die kleine graue Taube. Sie wollte, dass die Nacht nie endet, wollte nur da sitzen und die Wärme seines Körpers spüren, seinem schnellen Atem und den gurrenden Geräuschen zuhören und nicht denken, einfach sein! O, weh! Meine kleine Taube hat sich verliebt. Ihre Instinkte wachten auf und weckten neue Hoffnungen, auch wenn die Lebenserfahrung sich gnadenlos in ihre Gedanken (sie konnte es nicht lassen!) einmischte und zickte: „Das alles ist nur eine Illusion! Das wird kein gutes Ende haben! Er ist ein Macho und ein eingebildeter Spinner.“ Die andere, verliebte Seite ihres Wesens antwortete trotzig: „Egal. Wenigstes eine Nacht wunschlos glücklich.“ Und hatte unrecht. Denn wirklich glücklich ist nicht der, der keine Wünsche hat, sondern der glaubt, welche haben zu müssen und handelt. Und wenn die Handlungen einen Sinn ergeben, ist man doppelt so glücklich. Insofern ist Glück nur ein Ersatzwort für die Zweckmäßigkeit. Aber das passt wohl gar nicht in eine romantische Geschichte über zwei verliebte Turteltäubchen und deswegen lasse ich das jetzt. Was da zwischen den Beiden in dieser Nacht passierte, lasse ich wegen der Diskretion ebenfalls weg. Ist ja auch schließlich ein Märchen und sollte, stilistisch gesehen, als solches fortgeschrieben werden.
Am nächsten Morgen, als die Täubchen noch schliefen, entdeckte man sie eng aneinander gekuschelt und fing mit einem Netz ein. „Ach, du bist wohl auf Weibchenjagt geflogen!“ – sagte eine ironische Stimme. „Na, besonders hübsch ist ja deine Auserwählte nicht! Wir nehmen sie trotzdem mit. Vielleicht hat sie innere Werte“, – das war der Dompteur, der schon ziemlich alt war und wusste, dass Schönheit vergänglich ist und dass Talent mehr zählt als das oberflächliche Getue der Gefiederten aller Art. „Ein kaputtes Bein hast du auch noch! Du Arme!“ – stellte er fest, als er die kleine graue Taube aus dem Netz herausnahm. „Mal sehen, vielleicht mache ich mit dir eine schöne Nummer über die wahre Liebe!“
Und so wurde Chromonoschka eine Schauspielerin im kleinen Vogelzirkus auf Teneriffa. Natürlich nicht gleich, sondern nach langen Monaten der Arbeit, die mit viel Vertrauen seitens Mensch und Vogel verbunden war. Und was noch schöner war – sie lernte fliegen! Der alte Dompteur hatte viel Geduld mit Chromonoschka. Außerdem liebte er seine Artisten und wusste, dass das Fliegen für einen Vogel das Allerschönste ist, und gab nicht so schnell auf. Klein angefangen, konnte die neue Zirkustaube bald mit allen anderen Tauben im Kreis fliegen und hatte sogar eine kleine Rolle im Spektakel: sie stellte sich tot und wurde von ihrem Prinzen Pedro mit einem Küsschen zum Leben wieder erweckt. Danach flogen sie beide eine Hochzeitsrunde in der Halle: sie mit einem Tüllhäubchen auf dem Kopf und er mit einer Fliege am Hals.
Es vergingen Jahre. Als der alte Dompteur starb, wollte sein Nachfolger meine kleine Artistin im Vogelzirkus nicht mehr behalten. Er hielt wohl nicht viel von einer romantischen Liebe zwischen dem hübschen weißen Pedro und der grauen unansehnlichen Chromonoschka. Er setzte sie einfach aus, aber sie kam immer wieder über die weiße Parkmauer angeflogen, dorthin, wo ihre große Liebe war, wo ihre Küken sich zu berühmten Stars entwickelten und wo sie fliegen lernte. Stundenlang saß sie auf der hohen Stange über dem Vogelgehege und glaubte, dabei zu sein. Das Netz darunter störte sie überhaupt nicht – sie konnte ja alles sehen und hören, was da unten passierte.
Die kleine Chromonoschka lebt immer noch und manchmal sucht sie die Gesellschaft der Zweibeiner, den sie allerding nur mit Vorsicht vertraut. Sie humpelt von Handtuch zu Handtuch über den heißen schwarzen Strand von Teneriffa. Ich habe sie letztes Jahr während des Urlaubs auch gesehen und aus der Hand gefüttert. Sie machte einen ganz zufriedenen Eindruck.
Und jetzt wartet ihr wahrscheinlich auf die Moral? Es gibt keine. Es ist wie es ist und kommt wie es kommt, und kein Vogel und kein Psychoanalytiker weiß manchmal, wie man das ändern könnte.
Teneriffa, 2011